Ein Wesen, das in den letzten Jahrzehnten relativ große Bekanntheit erlangte, ist aber tatsächlich in Nordamerika beheimatet und entstammt der Folklore der amerikanischen Ureinwohner: der Wendigo oder auch Witiko.
Unser Wissen von Geistern, Dämonen und Wiedergängern ist stark durch die US-amerikanische Populärkultur geprägt. Wenn es keinen Film und keine Serie darüber gibt, kennen wir es für gewöhnlich auch nicht. Vielfach sind die Monster aus Hollywood kulturhistorisch gesehen europäischen oder jüdisch-christlichen Ursprungs: Elfen, Feen, Kobolde, Trolle, Gorgonen, Engel, Dämonen. Einige wenige wie Vampire, Gestaltwandler (einschließlich Werwölfen) oder Drachen kommen in unterschiedlicher Form weltweit vor und sind wohl deshalb besonders beliebt.
Kultureller Hintergrund
Die Wendigowak (so der Plural von Wendigo) sind Naturgeister, aber anders als viele andere Naturgeister, die wenn auch oftmals etwas launisch weder gut noch böse sind, sind die Wendigowak überaus böswillig. Seinen Ursprung hat die Wendigo-Sage bei den Anishinabe, einer indigenen Ethnie Nordamerikas. Die zu den Anishinabe gehörenden Ojibwa und Cree, bei denen der Wendigo-Glaube primär verbreitet ist, leben bzw. lebten im Südosten Kanadas bzw. Nordosten der USA, rund um die Großen Seen.
Die Angst vor den Wendigowak bei den Ojibwa und Cree war so groß, dass man bei ihnen aus Furcht nur in Gruppen auf die Jagd ging. Sollte dennoch einmal ein Stammesmitglied nicht heimkehren, schrieb man dies den Wendigowak zu. Wer als von einer der Kreaturen besessen galt, wurde für gewöhnlich getötet, um die übrigen Stammesmitglieder zu schützen. Denn ähnlich wie Graf Dracula R. M. Renfield zum Sklaven und Boten machte, kann auch ein Wendigo einen Menschen seinem Willen unterwerfen und ihn in seinem Sinne töten lassen. Eine Ausnahme bilden hierbei die Algonkin, bei denen die Wendigo-Besessenen einem Ritual unterworfen wurden, was einem Exorzismus ähnelte.
In der moderneren Rezeption wird die Kreatur wohl nicht zuletzt wegen ihres Ursprungs im indianischen Volksglauben oft auch als eine Art Rachegeist aufgefasst, der die Menschen für ihren Raubbau an der Natur abstrafen soll.
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Aussehen und Verhalten des Wendigo
Wendigowak werden je nach Region immer etwas anders beschrieben. In manchen Versionen sind Wendigowak sogar Gestaltwandler – normale Männer und Frauen bei Tag, Monstren in der Nacht, wenn ihr wahres Gesicht zum Vorschein kommt. Dann ist der Wendigo ein Hüne von drei Metern Höhe oder gar so groß, dass er die Wipfel der Bäume erreicht. Seine Gestalt ist anthropomorph, also menschenähnlich, doch wirkt er wie ein lebender Leichnam, dürr und ausgemergelt mit schwarz verfärbtem, halb verwestem Fleisch. Die ledrige Haut spannt sich über die durchscheinenden Knochen. Die Lippen sind schon so verfault, dass die ebenfalls faulen Zähne komplett bar liegen – ähnlich wie bei Saurons Mund in der Filmadaption von „Der Herr der Ringe“. Die Augen des Wendigos werden als glühende Kohlen beschrieben, die mit starrem Blick in die Nacht hinausblicken, vergleichbar mit den wachen Augen einer Eule, nur blutunterlaufen und rot.
In vielen Darstellungen haben Wendigowak auch ein Geweih wie ein Hirsch. Auch ihr Kopf ähnelt hin und wieder dem Schädel eines Hirsches. Die Hände sind dürr und filigran mit langen, spitzen Klauen. Die Füße werden gar als bis zu 1 m lag beschrieben und münden in einem einzigen großen Zeh. Ferner soll die Ferse wie ein Dorn hervorstehen. In einigen Darstellungen ist der Körper des Wendigos mit einem langen, dichten Fell bewachsen, in anderen ist er aus Eis. Aus Eis soll auch das steinharte Herz der Kreatur sein, welches in einigen Erzählungen nicht an den Körper gebunden ist und somit auch seine einzig verletzliche Stelle ausmacht.
Wendigowak sollen sehr flink sein und sich schnell und lautlos fortbewegen können. Sie stellen ihren Opfern bei Tag nach und greifen erst im Schutze der Dunkelheit an. Obgleich sie selbst schon äußerst gefährliche blutrünstige Kreaturen sind, ist ihre wohl erschreckendste Eigenschaft, dass sie von Menschen Besitz ergreifen können und diese dann dem Kannibalismus verfallen und Jagd auf ihre Mitmenschen, häufig engste Freunde und Familienmitglieder machen, um sie bei lebendigem Leibe zu fressen. So können die Opfer selbst wiederum zu Wendigowak werden.
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Metaphorik und psychologische Aspekte des Wendigo
Der Wendigo hat wie die meisten mythischen Wesen eine symbolische Bedeutung. Er steht stellvertretend für bestimmte Charaktereigenschaften, aber auch Urängste des Menschen. Sie personifizieren sich in ihm, er gibt ihnen eine Gestalt. Die Figur des Wendigos kann als Personifikation von alles verzehrender Gier gesehen werden. Er steht für Menschen, die ihre Mitmenschen rücksichtslos ausbeuten – sowohl materiell als auch emotional.
Obgleich der Wendigo-Mythos selbst wohl von narzisstischen Menschen inspiriert ist, bezeichnet der in 1980ern von nordamerikanischen Psychiatern eingeführte Begriff der „Windigo-Psychose“ tatsächlich Menschen, die ein Verlangen nach menschlichem Fleisch haben oder gar ihre kannibalistischen Neigungen ausgelebt haben.
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Künstlerische Rezeption: Der Wendigo in der Popkultur
Wendigowak zählen zu den populärsten Monstren der nordamerikanischen Folklore, und da die USA den Film- und Serienmarkt der westlichen Welt maßgeblich bestimmen, tauchen sie in solchen, aber auch in Büchern zuhauf auf. Das wohl bekannteste literarische Beispiel dürfte Stephen Kings Roman „Friedhof der Kuscheltiere“ („Pet Sematary“) sein, in dem eine der Kreaturen den Begräbnisgrund der dort einst ansässigen Ureinwohner berührt haben soll, weshalb im weiteren Verlauf des Romans dort beigesetzte Lebewesen von den Toten auferstehen.
Guillermo del Toro, der großes Interesse an einer dritten Adaption des Stoffes äußerte, war Produzent des Horrorfilms „Antlers“ basierend auf der Kurzgeschichte „The Quiet Boy“ von Nick Antosca. Hier ist der Vater des Jungen im Zentrum der Handlung von einem Wendigo besessen und verwandelt sich selbst in einen. Im Horrorklassiker „Ravenous – Friss oder stirb“ sehen sich die Charaktere gleich mehreren Wendigowak gegenüber. 2001 erschien dann sogar ein Horrorfilm mit dem Titel „Wendigo“.
In der gleichnamigen zweiten Folge von „Supernatural“ bekommen es Sam und Dean Winchester mit einem Wendigo zu tun – in dieser frühen Phase der Serie wurden die zugrunde liegenden Mythen auch recht authentisch umgesetzt, was sich nach der fünften Staffel und dem Weggang von Serienschöpfer Eric Kripke als Showrunner änderte.
Aber auch „Sleepy Hollow“ und „Charmed – Zauberhafte Hexen“ griffen den Mythos der Wendigowak auf. In der Welt der Videospiele tauchen Wendigowak ebenfalls hin und wieder auf – für gewöhnlich als Gegner, so etwa in „Fallout 76“, „World of Warcraft“, einigen „Final Fantasy“-Teilen, aber auch in dem Point-and-Click-Adventure „Harveys neue Augen“.
Wendigowak packen uns also an den Urängsten, sie sind die geheimnisvollen Monstren, die im Dunkel der Nacht auf uns lauern. Sie verkörpern zugleich die pure Gier, und so hält der Mythos uns auch ein Stück weit den Spiegel vor, gemahnt uns zur Mäßigung.
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