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Albumvorstellung: Clueso – Stadtrandlichter

Dieser Text könnte so beginnen: Fünfmal Gold, zweimal Platin, über eine Million verkaufte Tonträger. Thomas Hübner aka Clueso hat mit Lindenberg, Niedecken, Grönemeyer und den Fanta 4 gespielt, zu seinen Konzerten kommen bis zu 15.000 Besucher. Im Erfurter Güterbahnhof hat er mit seinen Weggefährten ein unabhängiges Netzwerk für Kulturschaffende aufgebaut. Nach knapp 15 Jahren Karriere kehrt er nun zurück mit seinem sechsten Album “Stadtrandlichter” — erstmalig auf dem eigenen Label Text und Ton, entstanden in völliger Eigenregie.

Dieser Text könnte aber auch so beginnen: Nach über zehn Jahren im Geschäft hatte Clueso, einer der erfolgreichsten Songwriter seiner Generation, ein Stück weit den Überblick verloren. Über Jahre war er musikalischer Anführer, kreativer Kopf und Leitwolf im zwischenmenschlichen Gefüge seiner Jungs. Musste immer wissen, wo es langgeht, durfte keine Schwäche zeigen. Doch diese Rolle engte ihn in seinem geistigen Freiraum ein, den er zum Musikmachen zwingend braucht. Man kann es als charmante Eigenschaft von Künstlern interpretieren, wenn sie das Chaos quasi magnetisch anziehen, nur in diesem konkreten Fall blockierte sie Clueso für einen kurzen Moment.

 

Der Song war einfach da, ohne Konzept, ohne Plan

Irgendwann kam jedoch ein Song. Einfach so, ohne dass er darauf geachtet hatte, was die anderen gerade so machen, welche Styles da draußen gerade angesagt sind. Der Song war ganz einfach da, ohne Konzept und ohne Plan. „Wir saßen im zweiten oder dritten Bandcamp zusammen. Auf einmal spielte unser Gitarrist Christoph ein paar Akkorde, die Band legte los, alles ging sehr schnell”, erzählt Clueso. „Sogar den Text haben wir gemeinsam geschrieben. Der Song ‘Stadtrandlichter’ war geboren.” Ein Befreiungsschlag. Drama raus, Tür auf. Rock, Electro, Blues, Pop, HipHop, alles rein in die Musik. Ausmisten, über den Tellerrand schauen, tradierte Modelle in Frage stellen. Sich Filme fahren. Alte Seile kappen. Alles neu. Und plötzlich war sie wieder da, die Leidenschaft. Das bisschen Schlampige und Rumpelige, aber auch das Zerbrechliche, Echte und Schöne, das diese Musik so ausmacht.

Sein letztes Album hieß „An und für sich”, erschien 2011 und war das letzte für die Plattenfirma Four Music, bei der Clueso seit Beginn seiner Karriere im Jahr 2000 unter Vertrag stand. Aus dem etablierten System der Musikindustrie auszubrechen, ist kein leichtes Unterfangen, wenn man einmal drin ist.

Doch zusammen mit seinem Team erschuf Clueso sich oben genanntes unabhängiges Netzwerk in Erfurt. Heute beschäftigt der Zughafen knapp zwanzig Mitarbeiter, die sich unter anderem um alle Bereiche von Cluesos Karriere kümmern, von Management bis Merchandise, von Musikverlag bis Catering, von Ticketsystem bis Tourproduktion.

Die neu gewonnene äußere und innere Freiheit nutzte er zunächst für Experimente: Bis Mitte 2013 produzierte er in Eigenregie zwei Alben, die vorerst in die Schublade wanderten. Vielleicht wird Clueso sie irgendwann der Welt zugänglich machen, vielleicht auch nicht. Beide waren wichtige Bausteine auf dem Weg zu der Platte, die nun tatsächlich erscheint. Sie beschäftigten ihn und lenkten ihn ab. Durch das Machen, ohne Ziel und ohne Auftrag, befreite er sich von der Last der Verantwortung. Spielerisch erfühlte er eine neue Vision, ein unfertiges Bild: Rückbesinnung ohne Nostalgie. Die Vergangenheit quasi „nebenbei” in der Gegenwart aufarbeiten, wie ein nicht-linear erzählter Film, eine Achterbahnfahrt durch Phasen und Abschnitte eines Lebens.

 

Clueso Stadtrandlichter

 

Ein Bauchalbum, keine Kopfplatte

Clueso wusste: „Wenn diese Platte so klingen soll, wie ich sie in meinem Kopf höre, dann muss ich Sounddesign und Produktion selbst in die Hand nehmen.“ Der logische letzte Schritt eines jahrelangen Prozesses der Selbstermächtigung. Als Songwriter wollte er sich keinem künstlichen Albumkonzept mehr beugen: „Jeder Song blieb, wie er zur Tür hereinkam.” Im Verlauf der Aufnahmen forschte er mit seinem Co-Produzenten Martin Rödiger zu den Themen Mixing und Recording und experimentierte mit seinen und auch anderen Musikern bis früh in den Morgen, abgeschottet und eingeschlossen, ohne Einfluss von außen. Oft holte sich Clueso auch Rat bei Ralf Christian Mayer, seinem langjährigen Freund, Produzenten und Mixing-Engineer. Er stellte das Album in der Endphase im nahtlosen Übergang fertig. Das Ergebnis ist „Stadtrandlichter”.

Der Künstler sagt selbst, mit dem Opener „Pack meine Sachen” verlasse er den alten Clueso. Doch der neue ist wie der alte, nur eben ein paar Schritte näher bei sich. Zum Teil ist er immer noch der Peter Pan von Erfolgsalben wie „Weit Weg” (2006) oder „So sehr dabei” (2008), manchmal ist er jedoch auch gereifter Beobachter. Das Album folgt in diesem Rollenwechsel keiner Chronologie: Der kleine Junge aus „Sein Song” könnte direkt neben dem Haus sitzen, in dem die Handlung von „Pack meine Sachen” stattfindet, wo es um einen Familienstreit geht. Das Album bekommt eine inhaltliche Klammer durch den letzten Song „Nebenbei”, der zeitlich im selben Moment wie der Opener „Pack meine Sachen” spielt, jedoch bewusst im Präsens formuliert wurde. „Man sagt doch: Mit 30 läuft man durch alle Zimmer seiner Jugend”, schmunzelt Clueso.

Im Verlauf von „Stadtrandlichter” scheint der Protagonist niemals so richtig anzukommen, auch wenn er zu Beginn seine Koffer gepackt hat. Doch man spürt: Er hat sich mit dem ewigen Flirt mit dem Versuch anzukommen arrangiert. Der Song „Lass den Kopf nicht hängen” umarmt das eigene Scheitern. „Alles leuchtet” beschreibt das Älterwerden und das Aufschieben von Entschlüssen — bis die notwendige Reife vorhanden ist, um eine erwachsene Entscheidung zu treffen. Das Gefühl der Überforderung, das sich nach dem letzten Album bei Clueso breitmachte, führte auf direktem Wege zu einer Platte, die gemacht werden wollte, ja: musste.

„Stadtrandlichter” ist aufgrund seiner Entstehung natürlich die Geschichte einer neu entflammten Liebe zur Musik. Das Album markiert einen beachtlichen Wendepunkt in einer Ausnahmediskografie, die im deutschsprachigen Raum ohnehin ihresgleichen sucht. Die Lieder auf der neuen Platte stecken voller Aufbruchsstimmung: Klar und präzise im Ausdruck, dabei aber von unheimlicher emotionaler Tiefe. Ein Bauchalbum, keine Kopfplatte. Eine Sammlung von spontanen Momentaufnahmen, der man am Ende kein bewusstes Konzept anhören sollte. Vielleicht ist es das beste Album, das Clueso je geschrieben hat. Die Zeit wird es zeigen.

 

Clueso Stadtrandlichter Albumcover
Das Albumcover zu Stadtrandlichter *

 

© Stephan Szillus, Berlin, 2014; Fotos: Belle Music PR / Christoph Köstlin

Ajouré MEN Redaktion
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