Manchmal denke ich, ich habe irgendwie echt schon einmal alles erlebt und dass nichts auf dieser Welt mich erschüttern oder sprachlos machen könne. Zumindest von Erlebnissen, die das Leben so mit sich bringt. Und nach 37 Jahren, unzähligen Umzügen und Flügen zu jedem Kontinent dieser Erde, wo ich mich mit zahllosen Einheimischen teilweise sehr offen unterhielt, habe ich mit vielem gerechnet, aber nicht mit dem, was mir eines Freitagabends in einer Berliner Bar erzählt werden sollte. Ausgerechnet im frivolen, freizügigen Berlin. In jener Nacht wurde Fassungslosigkeit vollkommen neu definiert. Oder war es Ratlosigkeit? Oder Trauer? Oder sogar Mitleid?
Dass es hier jetzt gleich um Sex gehen wird, dürfte klar sein. Oder besser gesagt, geht es vielleicht gerade um nicht erlebten Sex. Denn das ist auch bereits das Problem. No Sex, no Drugs, no Rock ’n Roll. Doch lasst mich von vorne anfangen. Es war eine dieser Wochen, wo wir froh sind, wenn sie vorbei sind. In Berlin fand die Berlinale statt und überall sind Aftershow-Partys, die Schönen und weniger Schönen und erfolgreichen und weniger erfolgreichen machen ein großes Schaulaufen. Für uns ist diese Zeit immer äußerst anstrengend, da wir von A nach B rennen. Um so besser war es, dass nun das Wochenende vor der Tür stand.
Freitagabend. Hier riecht es nach „Bar“ und „Drinks“ dachte ich mir und so fragte ich einige Freunde, ob sie nicht spontan Lust hätten, mich zu begleiten um einfach mal wieder einen drauf zu machen. Einmal vollmachen bis zum Morgengrauen. Gesagt getan. So treffe ich mich mit zwei Freundinnen und fünf Freunden in einer unserer Stammbars. Und nein, ich rede nicht vom Provocateur, sondern von der Gainsbourg in Charlottenburg. Urig, dunkel und vom Publikum her ein Querschnitt durch die Berliner Bevölkerung. Vom Koch aus Friedrichshain bis hin zum kleinen Schauspieler aus Charlottenburg, – hier findet sich jeder irgendwann mal ein.
Die zweite Runde Whiskey Sour hat nicht lange auf sich warten lassen und je mehr Gläser geleert wurden, desto lustiger wurde es. Und wie es nun einmal so ist, fällt mit den Prozenten im Alkohol auch die Hemmung exponentiell. Und so sind Themen wie Urlaub, Wohnungseinrichtung und Arbeit schnell weg vom Fenster. Sechs Männer und zwei Frauen können gemeinsam vor allem über ein Thema hervorragend und ausführlich sprechen: Sex, anstößige Scherze und dreckiges Grinsen. Irgendwann lenkt doch immer einer der Anwesenden das Thema auf die schönste Nebensache der Welt. Manchmal wird dieses Thema direkt im Keim erstickt, jedoch nicht so an diesem Abend. Zwei meiner Freunde sind gerade einmal 21 Jahre alt und stehen somit irgendwie in der Blüte ihrer Jugend. Man sollte meinen, die beiden lassen es frauentechnisch krachen als gebe es kein Morgen. Man könnte denken, bei denen wird um den Weltfrieden geritten. Doch damit lagen wir Lichtjahre daneben.
Was ist passiert?
Ich muss den beiden Einundzwanzigern erst mal einen „Künstlernamen“ geben und nenne sie, da es zu ihnen passt, Simon Pegg und Nick Frost (Shaun Of The Dead). Warum? Zum einen gibt es hier eine optische Ähnlichkeit bei beiden, die nicht von der Hand zu weisen ist. Zum anderen lebten auch Simon Pegg und Nick Frost als beste Freunde bereits vor deren Karriere als Schauspieler gemeinsam in einer WG. Ich hätte ihnen an dieser Stelle auch lieber Namen wie „Vincent Vega und Jules Winnfield“ aus Pulp Fiction gegeben, aber sie sind leider nicht so wie die beiden Übermänner, denn dann hätte ich ja hier keine Kolumne, in die ich mich gerade vertiefen kann.
Es war ungefähr Mitternacht als Nick Frost einen Satz von sich gab, der den Rest des Abends zum Leitfaden werden sollte. „Wir haben seit sieben Monaten keinen Sex gehabt.“ —STILLE—.
Lustigerweise saß er neben seinem WG-Mitbewohner Simon Pegg, der in diesen Satz mit „WIR“ ebenso gemeint war, wie Nick. Ich musste die Vorlage leider verwandeln und sagte „mir war neu, dass ihr beide zusammen überhaupt schon einmal Sex hattet“, und der Lacher war natürlich auf meiner Seite. Aber so meinte Nick das natürlich nicht. Beide saßen da, schnorchelten mit leicht gesenkten Kopf an ihrem Whiskey-Sour und wussten, was gleich geschehen würde. Die Fragerunde war also hiermit eröffnet und Futter für Fragen gab es jetzt genug. Es war ein bisschen wie damals bei der Quizz-Sendung Jeopardy!: Ungevögelt für 500 bitte…
Nachdem sich alle wieder etwas gefangen hatten, stand vor allem eine Sache jedem ins Gesicht geschrieben: Ein großes Fragezeichen. Niemand konnte verstehen, wie man sieben Monate keinen Sex haben kann, doch das sollte sich noch herausstellen.
Natürlich kamen folgende Fragen zuerst: „Stirbst du nicht beinahe?“ „Ist der Druck nicht unfassbar hoch?“ „Der erste Schuss, wenn du mal ne Neue hast, geht über die Garage, so viel Druck wie da drauf sein muss.“ „Digga, das ist beinahe schon gefährlich für die, die das mal abkriegt.“ Und natürlich wurde viel gelacht und es war auch ok, denn niemand meinte es böse oder hat sich lustig darüber gemacht. Ich war natürlich der Meinung, dass die beiden (jeder für sich alleine) wenigstens Hand an sich anlegen würden, doch auch das schien nicht immer möglich, denn sie wohnen ja zusammen und soweit ging die Freundschaft dann anscheinend doch nicht. Unsere Augen wurden also immer größer, unsere Münder standen offen und wir lauschten andachtsvoll den Worten, die all das zu erklären versuchten. Doch bevor ich dazu komme, soll zumindest eine kurze Nebeninformation für Bildung sorgen, denn es gibt es etwas, was sich „Sexuelle Depression“ nennt. Kurz erklärt bedeutet das, dass auf Grund fehlendes Geschlechtsverkehrs die Lust auf Sex nachlässt und man sich irgendwann daran gewöhnt, keinen Sex mehr zu haben. Sowohl bei Frauen, als auch bei Männern. Tragischer Nebeneffekt ist nicht nur der Spaß, der einem flöten geht, sondern auch die körperlichen Anzeichen. Trockenheit der Schleimhäute, Schmerzen während des Verkehrs (wenn’s dann doch mal passiert), Erektionsprobleme und die mangelnde Fähigkeit, Lust an Sex zu empfinden, geschweige denn einen Orgasmus zu haben. Alles Dinge, die ein junger Mann nicht haben möchte. Ok, zugegeben, niemand möchte das haben. Doch hier waren wir nun. Inmitten zweier jungen Berliner, die einfach zu lieb für die Frauenwelt zu sein schienen.
Packen wir es an. Was läuft also schief bei den beiden? Kurz gesagt: Alles was mit der Welt der Frauen zu tun hat. Es ist nicht so, dass die beiden geistig unterbelichtet wären und somit nur als Frauenschreck dienen könnten. Im Gegenteil. Beide haben ein Profil auf Tinder und erfreuen sich hier und da auch mal über ein Match mit durchaus gutaussehenden jungen Frauen. Doch zu einem Treffen kommt es selten und wenn man sich dann doch mal sieht, geht jeder danach wieder nach Hause. Tag für Tag. Warum? Weil (O-Ton): Ich weiß nicht genau, wie ich bei einer Frau den Schritt mache, damit dann „mehr“ geht. Also verläuft sich das Kennenlernen irgendwo im Sand und sie stehen wieder alleine da. Während Nick Frost uns erklärt, dass er seine Konzentration zurzeit auf seinen beruflichen Werdegang legt, ist Simon Pegg irgendwie weit davon entfernt und immerhin sehr an YouPorn interessiert. Wenigstens etwas, könnte man meinen (aber er ist ja nie alleine zuhause).
Wir sind in Berlin, erklärten wir den beiden. Da gibt es unzählige Möglichkeiten Sex zu bekommen, denn hier findet jeder Topf einen Deckel. Und wenn alles nichts hilft, kann man in unendlich vielen Etablissements für wenig Geld das finden, wozu man im echten Leben zu schüchtern ist. Doch für diese Lösung sind beide nicht offen gewesen, denn sie finden es frauenverachtend und würden niemals in einem Bordell landen. Sie würden das den Frauen nicht antun wollen, hieß es. Wir fragten also nach, ob sie nicht wüssten, dass diese Frauen von deren Kunden leben würden und diese natürlich brauchen. Da sei nichts Verwerfliches dabei und es sei allemal besser, als an einem geplatzten Hoden zu sterben, der ja irgendwann mal in die Luft gehen würde. Und unter uns: Wir waren mit beiden mal in einem Berliner Strip-Club und jetzt ratet mal, wer sehr viel Spaß hatte. Genau, Simon und Nick. Noch heute reden sie von jener Nacht mit einem dicken Grinsen im Gesicht. Wie menschlich die beiden in Wirklichkeit sind, beschreibt vielleicht ein Satz, den Nick von sich gab, als er im Strip-Club einen Lap-Dance von uns geschenkt bekam. „Ich durfte sie sogar anfassen. Auch unten.“ Ach haben wir gelacht. Aber nicht um jemanden zu blamieren, sondern weil es einfach so lustig und nett und lieb und alles gleichzeitig war.
Wir bezweifeln an dieser Stelle, dass man den beiden kurzfristig helfen kann. Aber es wird immer wieder eine Freude sein, mit den beiden durch Berlin zu ziehen.
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Kolumne von Daniel Heilig
Eine AJOURE´ ohne Daniel wäre wie ein Perpetuum mobile ohne die Bedeutung der Unendlichkeit. Seit dem Gründungsjahr schrieb Daniel unzählige Artikel und gehört zu den Grundpfeilern in der AJOURE´ Men.
Fotos: Universal Pictures Germany; Daniel Heilig privat